(Der SPIEGEL 5/3/2021) Das EU-Parlament will den CO₂-Ausstoß der Union bis 2030 um 60 Prozent senken, die Mitgliedstaaten aber nur um 55 Prozent. Was es für die CO₂-Mehreinsparung braucht, zeigt nun eine aktuelle Studie.
Damit die Ziele des Green Deal erreicht werden, muss die Europäische Union in den kommenden zehn Jahren Millionen Tonnen CO2 einsparen. Bis 2050 soll die Staatengemeinschaft klimaneutral werden – ein Mammutprojekt, das Einfluss auf unser gesamtes Leben haben wird, von der Energieerzeugung bis zum Autokauf.
Auf dem Weg dahin gibt es ein Zwischenziel: Im Dezember 2020 einigten sich die 27 Regierungen der EU-Länder darauf, bis 2030 den CO2-Ausstoß um 55 Prozent zu mindern. Experten rechneten bereits im Dezember vor, dass es nur etwas über 50 Prozent sind, weil in das Ziel auch sogenannte Senken, also aufgeforstete Wälder oder das Renaturieren von Mooren mit eingerechnet werden.
Doch nicht nur Klimaaktivisten und Wissenschaftlern reicht das nicht, auch das EU-Parlament teilt die Bedenken und will in dieser ersten Zwischenetappe bereits 60 Prozent Einsparung erreichen. Zwar haben Mitgliedstaaten und Kommission diesen Wunsch der Parlamentarier erst einmal übergangen. Doch bisher ist das EU-Klimagesetz nicht verabschiedet und – zumindest theoretisch – noch alles offen.
Die Differenz zwischen dem Vorschlag von Rat beziehungsweise Kommission und dem höheren Klimaziel des Parlaments liegt bei fast 300 Millionen Tonnen CO2 – das entspricht ungefähr dem CO2-Ausstoß von Spanien. Diese Drittelmilliarde kommt on-the-top zu der rund eine Milliarde Tonnen dauerhafter CO2-Einsparung dazu, die durch das von den Mitgliedstaaten beschlossene 55-Prozent-Ziel sowieso erreicht werden muss.
Zum Vergleich: Seit 1990 sparte die Union ungefähr rund 1,5 Milliarden Tonnen CO2 ein – allerdings verteilt auf 30 Jahre. Nun muss sie fast dieselbe Menge in nur zehn Jahren schaffen.
Studie: 60 Prozent sind machbar, aber unrealistisch
Dass das strengere Ziel nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich ist, bestätigt eine Studie, die dem SPIEGEL vorliegt. Die Wirtschaftsberater der britischen Agentur Cambridge Econometrics rechneten durch, welche wirtschaftlichen Belastungen durch die höheren CO2-Einsparungen entstehen. Das Ergebnis: Zwar müssten einige Branchen stärker unterstützt werden. Aber unterm Strich profitiert die EU von der Anhebung auf 60 Prozent.
Zwar würden für die EU Mehrkosten von drei Prozent oder zwölf Milliarden Euro pro Jahr im Vergleich zum 55-Prozent-Ziel anfallen, so die Studienautoren. Dafür würden aber auch eine Million neue Jobs in der Erneuerbaren-Branche oder der E-Mobilität entstehen – und die Wirtschaft würde sogar um 1,8 Prozent mehr wachsen.
Eine CO2-Steuer und höhere Einnahmen aus dem Europäischen Emissionshandel sollen laut Studienautoren den Umschwung finanzieren. Derzeit liegt der CO2-Preis der EU bei rund 40 Euro, noch unterliegt er aber starken Schwankungen – auch nach unten. Weil durch mehr Wind, Sonne und Biogas immer mehr fossile Energieimporte wie Kohle und Gas wegfallen, könnten noch mal rund 20 Milliarden Euro jährlich bis 2030 eingespart werden – so die recht optimistische Rechnung der Studie.
Investitionen werden ausgeglichen
Die schnellsten Erfolge beim Klimaschutz sollen bei der Energieversorgung erreicht werden. Dafür müssten alle Kohlekraftwerke der Union in den kommenden zehn Jahren abgeschaltet werden – Ausnahmen gestatten die Autoren nur für Polen, das extrem von der Kohlekraft abhängig ist.
»Die Studie zeigt, dass höhere Investitionen am Anfang durch zügige Mehreinnahmen aufgrund des CO2-Preises im Emissionshandel und auf nationaler Ebene ausgeglichen werden«, sagt Michael Bloss, Europaabgeordneter der Grünen und Auftraggeber der Studie.
Andere Energieexperten sind zurückhaltender. So dämpft Andreas Graf vom Berliner Thinktank Agora Energiewende die Erwartungen: »So ermutigend die Ergebnisse auch sind, so wahrscheinlich ist es auch, dass diese noch höheren Ziele in den nächsten Jahren außer Reichweite geraten, wenn dies nicht jetzt schon der Fall ist«. Die Analyse gehe von einer sofortigen, fehlerlosen und konsequenten Umsetzung ab 2021 aus – davon sei aber bisher nicht viel zu sehen.
»Auf der Makroebene sind Energie, Industrie und Mobilitätssysteme eher wie Ozeandampfer als Schnellboote«, so Graf. Er hoffe dennoch, dass die EU ihren Kurs dauerhaft geändert habe.
Klimakommissar ignoriert 60-Prozent-Forderung
Den Europaabgeordneten Bloss ärgert die zögerliche Haltung von Kommission und Mitgliedstaaten beim EU-Klimaziel: »Meine Geduld ist am Ende. Die EU-Kommission und der Rat verhalten sich undemokratisch, wenn sie den Beschluss des Parlaments zum Klimaziel ignorieren.«
Zusammen mit anderen grünen Abgeordneten hat er nun einen Brief an EU-Kommissar Frans Timmermans geschrieben, der dem SPIEGEL vorliegt. Darin beschweren sich Parlamentarier darüber, dass ihr 60-Prozent-Beschluss bisher komplett ignoriert wird. »Bislang warten wir in den Verhandlungen zum Klimaziel vergeblich auf konstruktive Vorschläge von der EU-Kommission oder dem Rat«, so Bloss.
Derzeit arbeiten Kommission, Mitgliedstaaten und Parlament im sogenannten Trilog noch die letzten Details des Klimagesetzes aus – darunter fällt auch die Erhöhung des Klimaziels. Bis Mai könnten sich die Verhandlungen noch ziehen. In den Fluren von Brüssel erzählt man sich, dass der EU-Kommissar die Wünsche des Parlaments komplett ignoriere. Wie wenig die Kommission auf die Entscheidung des Parlaments gibt, zeigt auch das bereits an die Uno gemeldete 55-Prozent-Ziel.