(Spiegel Online 14/12/2019) Die EU-Staaten wollen bis 2050 klimaneutral werden. Doch Polen hat das wiederholt abgelehnt. Warum, sieht man im polnischen Belchatów, wo die Menschen hoffen, dass auch in hundert Jahren noch Kohle verbrannt wird.

Wer wissen will, wie weit Europa noch davon entfernt ist, zu einem klimaneutralen Kontinent zu werden, braucht von Berlin aus nur 500 Kilometer nach Osten zu fahren. In Belchatów angekommen, kriecht dem Besucher schon am Bahnhof der Geruch verbrannter Kohle in die Nase. Er stammt von den zahlreichen alten Öfen, mit denen hier in der polnischen Kleinstadt noch immer viele Menschen gegen die strengen Winter anheizen. Ohne Kohle gäbe es in Belchatów keinen Strom, keine warmen Wohnzimmer und keine Arbeit.

Geht es nach Ursula von der Leyen, soll die EU bis 2050 klimaneutral sein. Wie wenig Einigkeit dabei besteht, sieht man im polnischen Belchatów. Dort hoffen die Menschen, dass auch in hundert Jahren noch Kohle verbrannt wird.

Gut zehn Kilometer vor der Stadt steht das größte Braunkohlekraftwerk der Welt. Seine Schlote sind von überall zu sehen. Sie ragen 300 Meter aus der Landschaft empor und sind damit fast so groß wie der Eiffelturm. Pro Jahr rollen 45 Millionen Tonnen Braunkohle von den umliegenden Tagebauen auf den Förderbändern in die Brennkammern. So gelangen zwischen 30 und 40 Millionen Tonnen des klimaschädlichen CO2 in die Atmosphäre. Damit stößt das Werk jährlich mehr Treibhausgase aus als die Slowakei oder Irland.

Bevor der Kohleriese in den Achtzigerjahren errichtet wurde, war Belchatów ein kleines Nest. Ende der Siebzigerjahre entdeckte man hier jedoch riesige Braunkohlevorkommen unter den Äckern der Bauern. „Heute hängt die Mehrheit der Arbeitsplätze an dem Kohlekraftwerk. „Bevor es gebaut wurde, hatten wir hier knapp 20.000 Einwohner, heute haben wir das Dreifache“, erklärt Jakub Berowski, Stadtplaner der Gemeinde Belchatów.

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Er empfängt in einem schmucklosen Büro an einem langen Holztisch. Was die Gemeinde von Klimaschutz halte? Schließlich will die EU ja 2050 spätestens klimaneutral werden. „Viel“, antwortet der Stadtplaner mit einem eindringlichen Nicken. „Wir haben hier einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und viele Grünanlagen. Die Gemeinde versucht sehr viel, um Belchatów klimafreundlich zu machen.“ Damit meint Berowski natürlich die Stadt. Nicht das Kraftwerk. Das nämlich sei Sache des Betreibers. Und der ist der polnische Staat. Die Regierung gibt laut Subventionsberichten über 900 Millionen Euro pro Jahr für Bergbau und Kohleverstromung aus.

Konzepte für die Zeit nach der Kohle sind rar

Trotz aller Klimaschutzbekundungen kann sich die Gemeinde ein Leben nach der Kohle nur schwer vorstellen. Der Stadtplaner erzählt etwas von Tourismus, den man hier fördern wolle. Beispielsweise Skipisten auf Abraumhalden. Und ein Atomkraftwerk sei mal im Gespräch gewesen. Mehr Ideen gibt es erst mal nicht. Das sei aber ohnehin nicht so dringend, schließlich plane der Betreiber derzeit neue Tagebaue für die Zeit nach 2035, Lizenzen gibt es schon mindestens bis 2040.

Der Stadtsekretär Artur Kurzeja, ein älterer Herr mit blauem Sakko, kommt selbst aus einem Dorf, das vom Betreiber PGE für die Braunkohle abgebaggert wurde. Er fragt mit einem Lächeln, ob denn jemand ernsthaft an den deutschen Kohleausstieg glauben würde. „Neulich hatten wir eine Gemeinde aus Sachsen-Anhalt zu Besuch und haben ihnen gezeigt, wie nachhaltig man Braunkohle gewinnen kann“, erzählt der Stadtrat stolz. Die Gäste seien von der Modernität des Tagebaus „sehr beeindruckt gewesen“.

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Diese Realitätsverweigerung in Belchatów ist in Polen der Normalzustand. Es gibt keine seriösen Versuche von Betreibern oder der Regierung, den Kohleausstieg oder gar einen Strukturwandel anzugehen. Deshalb können auch die Gemeinden wenig tun, wenn so getan wird, als ob die Kohleverstromung noch hundert Jahre weiterginge.

„Warum sollen wir überhaupt aufhören mit der Kohle?“

Das bestätigt sich in einem Gespräch mit einem lokalen Gewerkschafter. Jaroslaw Grzesik ist selbst noch in die Grube gefahren und vertritt in der Gewerkschaft Solidarnosc seit 20 Jahren seine Kumpel. Solidarnosc genießt in Polen und Europa einen guten Ruf, weil sie in den Achtzigerjahren aus einer Streikbewegung gegen die sozialistische Staatsmacht und die sowjetische Einflussnahme entstand, an der sich auch viele Intellektuelle, Regimekritiker, aber auch die katholische Kirche beteiligten.

Ein Ende der Kohle kann und will Grzesik sich nicht vorstellen. Das habe alles keinen Sinn: „Warum sollen wir überhaupt aufhören mit der Kohle? Der Mensch ist schließlich nur für 1,5 Prozent der Erderwärmung verantwortlich“, behauptet der Solidarnosc-Vertreter in grotesker Verkennung der wissenschaftlichen Fakten. Den deutschen Kohleausstieg hält er für ein Täuschungsmanöver. Aber selbst wenn, hätte ein Land wie Polen – anders als Deutschland – niemals das Geld, um Milliarden Euro in die vom Strukturwandel betroffenen Regionen zu buttern, sagt er.

Der Kohlekraftwerksbetreiber PGE ist da vorsichtiger. Ein Gespräch und Besuch im Kraftwerk lehnt die Leitung ab. Den Bergleuten im Tagebau rät PGE ebenfalls, keine Journalisten zu empfangen, obwohl sie zunächst zugesagt hatten. Auf dem Parkplatz vor dem Kraftwerksgelände kommt innerhalb von Minuten die Security, wenn Fotos geschossen werden. Es folgt ein Verhör von einer Stunde. Scheinbar ist man sehr nervös, weil man Angst vor Klimaaktivisten hat.

Schuld ist die „EU-Diktatur“ in Brüssel

Schließlich heißt es in einer schriftlichen Antwort: „Wir tun viel für den Klimaschutz und die Sorge um die natürliche Umwelt ist eine der Prioritäten des Kraftwerks Belchatów“. Es folgen Details über Emissionsminderungen und technische Verbesserungen. Außerdem baue PGE mittlerweile auch Windparks in der Ostsee. Allerdings spiele Belchatów „eine sehr wichtige, stabilisierende Rolle im elektroenergetischen System Polens“. Und: „Die Energiepolitik der Europäischen Union zwingt uns, uns ständig an immer neue Anforderungen anzupassen.“

Dass Polen die Klimaschutzpolitik als Zwang begreift, ist kein Wunder. Denn der Europäische Emissionshandel wird zu einer echten Bedrohung für das Land, weil der Preis pro Tonne CO2 in den letzten Monaten auf über 25 Euro anstieg. Da Kohlekraftwerke nur eine bestimmte Menge an Emissionen ausstoßen dürfen, muss der Rest mit Emissionsrechten ausgeglichen werden. Das bedeutet erhebliche Mehrkosten, die der polnische Staat wegen seiner Kraftwerke schultern muss. Deshalb versucht das Land zu bremsen, wo es geht, und sieht nicht den Klimawandel, sondern die „EU-Diktatur“ in Brüssel als die wahre Bedrohung für Millionen Polen, wie es der Gewerkschafter Grzesik ausdrückt.

Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag boykottierte das Land abermals das Ziel der Union, bis 2050 klimaneutral zu werden. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte vorgeschlagen, dass sein Land erst 2070 klimaneutral werden solle. Für Polen gilt nun eine Sonderregelung, weil das Land darauf bestand, das Ziel in seinem „eigenen Tempo“ zu erreichen. Alle anderen Länder verpflichteten sich auf das 2050-Ziel.

Bereits im Sommer hatte eine Mehrheit der EU-Staaten vergeblich versucht, das 2050er Klimaschutz-Ziel festzuschreiben. Damals blockierten neben Polen auch andere osteuropäische Staaten wie Tschechien und Ungarn. Die Verhandler einigten sich damals darauf, Kohlesubventionen in der EU ab 2025 zu verbieten. Polen konnte für seine Kraftwerke eine Ausnahme erreichen und darf seine bereits genehmigten Kraftwerke weiter mit Staatsgeld pampern.

Damit Polen doch noch auf den Klimakurs der EU einschwenkt, hat die EU-Kommission im Rahmen des gerade vorgestellten „European Green Deal“ auch einen europäischen Strukturwandelfonds, den „Just Transition Fund“ vorgesehen. Umfang: etwa hundert Milliarden Euro (mehr zu den Inhalten des „Green Deal“ lesen Sie hier).

Auch die neuerdings grüne Europäische Investitionsbank will den neuen Geldtopf füllen, kündigte Vize-EIB-Chef Andrew McDowell Mitte November an. Damit soll Kohle-abhängigen Ländern wie Polen geholfen werden. Das kann für die EU allerdings teuer werden. Der Solidarnosc-Sprecher Grzesik glaubt, dass in Polen mindestens doppelt so viel Geld gebraucht werde wie in Deutschland. „Schon allein für die schlesische Region bräuchten wir 40 Milliarden Euro, und das sind bei Weitem nicht alle Kohlekraftwerke“, meint der Gewerkschafter.

Aber der ganze Aufwand lohne sich gar nicht. Schließlich gebe es keinen Klimawandel.

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