(Der SPIEGEL 9/08/21) In neun Jahren könnte der Anstieg der globalen Mitteltemperatur 1,5 Grad überschreiten, prognostiziert der Weltklimarat – und warnt vor nie erreichten Extremwetterereignissen. Der Trend lässt sich nur verlangsamen, wenn man sofort handelt.
Es ist die Inventur der Klimaforschung, und ihr Ergebnis fällt erschütternd aus: Alle sechs Jahre werten Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt die wissenschaftlich relevanten Studien zum Klimawandel aus. In dem an diesem Montag veröffentlichten ersten Teil des sechsten Sachstandsberichts hat der Uno-Weltklimarat erneut eine Prognose für die Zukunft abgegeben – sie ist präziser als die vorherige und hält schlechte Nachrichten parat.
Demnach könnte der Anstieg der globalen Mitteltemperatur von 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau bereits früher erreicht werden als bisher angenommen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wird damit das im Pariser Klimaabkommen festgehaltene Erwärmungslimit bereits in den frühen Dreißigerjahren erreicht, heißt es in dem ersten Teilbericht. In dem Uno-Abkommen haben sich die Staaten verpflichtet, die weltweite Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad, »möglichst« sogar unter 1,5-Grad zu halten. Je nach Szenario werden die 1,5-Grad aber bis allerspätestens 2040 überschritten.
Seinen ersten Report veröffentlichte der von der Uno eingesetzte Weltklimarat (IPCC) im Jahr 1990. Damals ging es vor allem um die Fragen, wie sich das Klima verändert und inwiefern der Mensch dafür verantwortlich ist. Mittlerweile erscheint der sechste Sachstandsbericht. IPCC ist die Abkürzung für »Intergovernmental Panel on Climate Change«, übersetzt Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen. Der fünfte Sachstandsbericht erschien 2013/2014.
Allein für den ersten Teilbericht des aktuellen IPCC-Reports werteten die Forscher Tausende Klimastudien aus. Die Datenmenge ist so hoch, dass der Uno-Weltklimarat den Stand der Klimaforschung in drei Arbeitsgruppen abhandelt – in dem aktuellen veröffentlichten Abschlussbericht geht es nur um die »naturwissenschaftlichen Grundlagen«, zwei weitere zu den Folgen des Klimawandels, zur Anpassung und der Reduktion von Treibhausgasen folgen im nächsten Jahr. Die Veröffentlichung von Teil zwei des Sachstandsberichts ist für Februar 2022 vorgesehen, von Teil drei für Ende März kommenden Jahres. Der Synthesebericht soll Ende September 2022 vorliegen.
Im IPCC-Sonderbericht von 2018 hieß es noch, dass die 1,5 Grad zwischen 2030 und 2052 eintreten würden, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert werde – die Zeitspanne war also noch deutlich größer.
Je genauer die Projektionen, desto düsterer die Aussichten
»Im vorherigen Bericht wurde eine lineare Zunahme der Temperatur angenommen«, erklärt IPCC-Leitautor Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie gegenüber dem SPIEGEL. Das sei jedoch nur eine grobe Schätzung gewesen. Der Ozeanologe leitet das Kapitel zu Klimaprojektionen. »Mittlerweile wissen wir, dass die Erwärmungskurve vermutlich erst einmal schneller nach oben geht als damals angenommen.« Die Weltgemeinschaft werde die Pariser Ziele krachend verfehlen, wenn der Treibhausgasausstoß nicht schnell und drastisch sinke.
Im Unterschied zu vorherigen Veröffentlichungen des von der Uno eingesetzten Wissenschaftlergremiums sind die Projektionen der verwendeten Klimamodelle mittlerweile präziser und die Abschätzungen genauer. Die Korrekturen sind unter anderem immer leistungsstärkeren Supercomputern zu verdanken.
»Die Rechenkapazität ist heute viel höher als noch vor sechs Jahren, es gibt längere Messreihen und vergleichbare Datensätze«, erklärt Astrid Kiendler-Scharr, ebenfalls IPCC-Leitautorin, im Gespräch mit dem SPIEGEL. »Das erlaubt uns, die Zukunft des globalen Klimas präziser zu berechnen.«
Der neue Weltklimabericht geht deshalb auch auf regionale Klimaveränderungen, beispielsweise in Westeuropa, ein. Mittlerweile gebe es dafür ausreichend Studien, die man zusammenfassend bewerten könnte, meint Astrid Kiendler-Scharr. Deshalb legen die Forscherinnen und Forscher erstmals einen interaktiven regionalen Atlas vor.
Bereits an den beobachteten Wetterveränderungen der vergangenen Jahre lässt sich laut dem Bericht ablesen, dass es mehr Dürren, Hitzewellen und Starkregenereignisse gibt – dabei liegt laut Bericht die globale Durchschnittstemperatur derzeit bei »nur« rund 1,1 Grad über der im vorindustriellen Zeitalter.
Wetterextreme: Die Welt wird schwitzen
Erstmals enthält ein Weltklimabericht auch ein eigenes Kapitel über Wetterextreme. Das wurde möglich, weil seit einigen Jahren vermehrt Attributionsstudien, die den Anteil des Klimawandels an einem Wetterereignis beschreiben, erstellt werden. Die Autoren konnten deshalb auf vergangene Ereignisse wie die Hitzewellen in Nordamerika oder die Brände in Australien schauen. Gleichzeitig werden die Klimamodelle immer besser, sodass regionale Wetterphänomene besser abgeschätzt werden können.
Die Aussichten sind beunruhigend: In Südeuropa könnten künftig Dürren zunehmen, im Norden eher Starkregen – überall ist jedoch mit einer Zunahme von Hitzewellen zu rechnen. Allerdings sprechen die Autoren bei Niederschlägen noch von einer wahrscheinlichen Tendenz – während es bei der Zunahme von extrem heißen Wetterereignissen eine »hohe Evidenz« gebe.
»Der Bericht macht sehr deutlich, dass der Klimawandel bei der Hitze ein Gamechanger ist«, meint Friederike Otto, Autorin des Kapitels über Wetterextreme und Leiterin des Environmental Change Institute der University of Oxford. In ausnahmslos allen Erdteilen würden extrem heiße Tage zunehmen. »Bei einer durchschnittlichen Erwärmung von vier Grad über dem vorindustriellen Niveau wird es an heißen Tagen im globalen Durchschnitt mehr als fünf Grad heißer werden.«
Leider gebe es immer noch viele Regionen – vor allem in Entwicklungsländern –, wo extrem wenig klimawissenschaftliche Studien erstellt würden, sagt Otto. »Dabei ist es notwendig, dass gerade in armen Ländern bessere Informationen über die Wahrscheinlichkeit von Extremwetter gemacht werden.«
Mit steigenden Temperaturen würden laut dem Bericht auch kombinierte Extremwetter möglich: Durch den Klimawandel steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Hitzewellen und Dürren oder Starkregen und Stürme gleichzeitig auftreten.
»Je wärmer es weltweit wird, desto mehr werden wir nie erlebte und bisher nie erreichte Extremereignisse sehen«, warnt Friederike Otto. Dabei mache es einen entscheidenden Unterschied, ob die Welt auf eine 1,5- oder 2-Grad-Erhöhung gegenüber der vorindustriellen Zeit zusteuere.
Wie eine Methanreduktion das 1,5-Grad-Ziel retten kann
Ob das globale 1,5-Grad-Ziel doch noch zu halten ist, hängt laut den IPCC-Autoren entscheidend davon ab, wie schnell die Staaten ihren Ausstoß von Treibhausgasen senken. Aufgeben solle man die Hoffnung nicht: »Wir sollten nicht glauben, dass es zu spät ist«, meint Kiendler-Scharr vom Forschungszentrum Jülich. »Im Gegenteil: Jedes Zehntelgrad zählt«, so die Klimaforscherin.
Der aktuelle Teilbericht hat zwölf Kapitel, an denen insgesamt 234 Autoren und Autorinnen mitgearbeitet haben. Zudem kommentierten Zehntausende externe Klimaexperten die Ergebnisse des Berichts. Die Autoren fassen für den Weltklimarat den Stand der Klimaforschung zu einer Art Metastudie zusammen – sie selbst machen keine eigenen Forschungen, bewerten aber den Forschungsstand neu. Dafür haben sie rund 14.000 Studien zitiert.
Der Weltklimabericht ist die größte internationale Forscherkooperation der Welt. In einer Abschlusssitzung müssen alle 195 Länder – die Mitglieder des Weltklimarats – einer Zusammenfassung des Berichts zustimmen und Formulierungen diskutieren, wobei die wissenschaftlichen Aussagen des Berichts nicht verfälscht werden dürfen. Mehr Informationen auf Klimafakten.de
Eine große Hoffnung ist, die kurzlebigen Treibhausgase drastisch zu senken. Während sich CO₂ über Hunderte Jahre in der Atmosphäre hält, tragen andere Gase in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum zum Treibhauseffekt bei. Sie zu begrenzen, führt deshalb relativ schnell zu einem Effekt. »Wenn die Badewanne nicht länger vollläuft und gleichzeitig das Wasser schneller abläuft, dann könnte der Klimaschutz schneller spürbar werden«, so das Bild von Kiendler-Scharr, Leitautorin des Kapitels für kurzlebige Gase.
Der Bericht untersuchte deshalb die Treibhausgase Methan, Halogene Gase und sogenannte Ozonvorläufer, also Gase, die zur Bildung von bodennahem Ozon beitragen. »Die bisher durch den Menschen verursachte Erwärmung durch solche kurzlebigen Stoffe ist vergleichbar hoch wie durch CO₂«, sagt Kiendler-Scharr. »Allein durch eine drastische Reduktion dieser Treibhausgase könnten wir die Erwärmung bis 2040 um 0,2 Grad und bis 2100 um 0,8 Grad verringern.« Sie ersetzten zwar nicht die Notwendigkeit CO₂-Emissionen zu senken, aber ergänzen den Klimaschutz.
Besonders klimaschädlich ist Methan, das rund 87-mal so stark zur Erderwärmung beiträgt wie CO₂. Es entsteht vor allem durch die Erdgasförderung und -transport sowie in der Landwirtschaft. Auch in Deutschland wird mit Gasleitungen wie Nord Stream 2 und Flüssiggasterminals an der Nordsee noch Gasinfrastruktur zu- statt abgebaut. »Im deutschen Strommix hat der Anteil von Methan pro Kilowattstunde seit 1990 erheblich zugenommen«, meint Kiendler-Scharr. Auch in der Landwirtschaft würden bisher – unter anderem in der Tierhaltung – kaum Maßnahmen zur Eindämmung des Methanausstoßes ergriffen.
Zur Gruppe der kurzlebigen klimawirksamen Stoffe gehören auch Aerosole, also Kleinstpartikel wie Feinstaub von Autoabgasen. »Es ist bekannt, dass diese Partikel sowie Schwefeldioxid und Stickoxide eine kühlende Wirkung haben«, so Kiendler-Scharr. Die meisten Studien hätten aber ergeben, dass der »positive« Effekt aufs Klima durch die Luftverschmutzung nur regional und zeitlich extrem begrenzt sei. »Es macht also absolut Sinn, die Luft in Städten besser zu machen, denn die Klimaveränderung lässt sich damit nicht aufhalten.«
Ansporn für die Uno-Klimaverhandlungen
»Der Bericht ist ein Realitätscheck«, kommentierte auch die Co-Vorsitzende des ersten IPCC-Teilberichts, Valérie Masson-Delmotte. Was die Regierungen mit den Informationen machen sollten, könnten und wollten die Wissenschaftlerinnen jedoch nicht beantworten. »Wir als Wissenschaftler richten keine Forderungen an die Politik«, erklärte Leitautor Jochem Marotzke. Dennoch ergebe sich aus den Ergebnissen des Berichts zwangsläufig die Frage, wie ernst die Regierungen die Klimaschutzfragen nehmen wollten. »Dieser Bericht zeigt ganz klar, dass wir bei einem weiterhin hohen Emissionsniveau weder das 1,5- und das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Abkommens schaffen«, so Marotzke.
Der erste Teil erscheint nur drei Monate vor den Uno-Klimaverhandlungen in Glasgow. Bis dahin sollen die Länder ihre Klimaziele erhöhen, außerdem muss das Regelwerk des Pariser Abkommens abschließend verhandelt werden. Die Klimaschutzbemühungen der Länder reichen bisher noch nicht aus, um den Treibhausgasausstoß drastisch zu senken.
Am vergangenen Freitag waren die – in diesem Jahr digitalen – Schlussberatungen des Weltklimarats zwischen den Autoren des Berichts und Regierungsvertretern aus fast 200 Ländern zu Ende gegangen. Sie berieten über die endgültige Version der »Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger«. Dabei dürfen aber wissenschaftliche Inhalte nicht verändert, sondern nur Formulierungen angepasst werden. Die Diskussionen zwischen Politik und Forschung finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und sind laut Insidern oft hochemotional.
Zumindest der nun veröffentlichte erste Teil des Weltklimaberichts dürfte deshalb auf der Uno-Klimakonferenz in Glasgow eine Rolle spielen. »Die Wissenschaft erlaubt uns nicht, die Welt so zu sehen, wie wir sie gerne hätten«, erklärte Patricia Espinosa, Chefin des Uno-Klimasekretariats. »Sondern sie soll uns zeigen, wie sie wirklich ist