(Stern/National Geographic 9/18) Die Deutschen trennen fleißig Müll – statt ihn gar nicht erst zu produzieren. Ein Plädoyer für Konsumverzicht.
Als ich meinem argentinischen Freund Leandro das erste Mal die deutsche Mülltrennung erklärte, erntete ich Bewunderung. Wir standen in meinem Berliner Altbauhinterhof im Prenzlauer Berg vor sechs bunten Tonnen, und ich erklärte stolz, welcher Abfall in welche Tonne wandert. Darauf stimmte mein Gast eine Lobeshymne auf die Deutschen an: wie sauber alles hier sei und wie durchdacht. Zunächst fühlte ich mich geschmeichelt: Ja, in Deutschland hat der Umweltschutz Tradition, und für jeden Deutschen gehört Mülltrennung zum guten Ton. Doch das gute Gefühl hielt nicht lange an.
Die Antwort ist für mich und alle stolzen Mülltrenner in Deutschland entlarvend: Hinter unserem guten Gewissen, den aufgeräumten Supermärkten und unseren sechs Mülltonnen im Hof steckt ein großer Selbstbetrug.
Im Jahr 2018, rund 60 Jahre nachdem die Plastikproduktion Fahrt aufnahm, sind Verpackungen aller Art zur Normalität geworden. Lag der Verbrauch im Jahr 1950 noch bei 50 Millionen Tonnen, ist der Plastikkonsum heute auf weltweit 350 Millionen Tonnen angewachsen. Mehrere Generationen kennen ein Leben ohne Plastik gar nicht mehr.
Dass jeder Deutsche pro Jahr 37 Kilogramm Plastikverpackungen wegwirft und zusammen mit Aluminium und Pappe sogar 150 Kilo Verpackungsmüll produziert, entschuldigen wir gern mit dem Hinweis auf den Gelben Sack: Wir können unbegrenzt konsumieren, wenn wir nur ordentlich Müll trennen. Doch stimmt das wirklich?
Das Image vom Mülltrenn-Weltmeister ist schnell widerlegt: Zwar werden bis zu 99 Prozent der Plastikabfälle in Deutschland eingesammelt. Schlecht sieht es aber beim Recycling aus: Nur 45 Prozent werden stofflich wiederverwertet, der Rest wird verbrannt, auch in Zementfabriken und Braunkohlekraftwerken. Und selbst wenn unser Joghurtbecher ein zweites Leben bekommt: Was passiert danach? Bekommt er auch ein drittes und viertes Leben? In ihm stecken nicht nur jede Menge Rohöl, sondern auch jede Menge Energie, die jedes Mal aufs Neue investiert werden muss, damit unsere Tomaten unter einer Folie schwitzen.
Mit dem Bewusstsein in Sachen Verpackung ist es ähnlich wie beim Klimawandel: Alle wissen es, doch kaum jemand tut etwas dagegen.
Schuld an den Müllbergen sind laut GVM-Studie neben der Verpackungswut schrumpfende „Füllgutmengen“: Immer kleinere Mengen von Lebensmitteln werden immer mehr verpackt – Schokolade, jedes Stück extra verschweißt, oder Kaffee, grammweise auf Alu-Kapseln aufgeteilt. Wer will schon klebrige Finger beim Schokoladeessen bekommen oder Kaffee umständlich in Papierfilter umfüllen? Dafür ist keine Zeit mehr – der Kunde soll beim Konsumieren so wenig wie möglich belastet werden.
Hinter dieser Philosophie steckt aber nicht nur der Lifestyle, sondern auch der eigentliche Kern des Verpackungswahns: Da die Rohstoffe extrem billig sind und Verpackungen kaum besteuert werden, kann mit einem geschickten „Branding“ pro Kilo Lebensmittel sehr viel mehr Geld verdient werden. Wie viele Leute schwören auf Kaffee aus „sauberen“ Kapseln, den auch Herr Clooney so genüsslich trinkt, und wer verschenkt nicht mit Hingabe einzeln eingepackte Pralinen, weil sie „Mon Chéri“ heißen? Mit geschickten Werbestrategien ziehen uns die Konzerne das Geld aus der Tasche und füllen unseren Hausmüll. Der eigentliche Sinn von Verpackung – nämlich die Ware beim Transport zu schützen – ist zur Nebensache geworden.
Doch mit dem Bewusstsein in Sachen Verpackung ist es ähnlich wie beim Klimawandel: Alle wissen es und haben ein schlechtes Gewissen, doch kaum jemand tut etwas dagegen. Das mag auch daran liegen, dass viele verpackungsreiche Produkte als Renner gelten – weil sie suggerieren mehr zu sein als „nur“ Schokolade, „nur“ Kaffee oder „nur“ Tomaten. Die „Bad Guys“ der Wirtschaftswissenschaften, auch Wachstumskritiker genannt, haben dafür eine psychologische Erklärung: Produkte hätten in unserer Konsumgesellschaft ein „Doppelleben“, schreibt beispielsweise der Guru der Wachstumskritik, Niko Paech. Sie seien nicht nur Dinge des täglichen Bedarfs mit einem „messbaren objektiven Zweck“, sondern Träger von Botschaften – sie verleihen ihrem Nutzer eine Identität. Je mehr Verpackung, desto mehr Identität kann vermittelt werden.
Was wir wirklich brauchen: Raus aus der Konsumfalle. Hin zum eigentlichen Leben hinter den bunten Verpackungen.
Das klappt mit „Nespresso“ oder „Mon Chéri“, aber auch mit sogenannten nachhaltigen Produkten: Die Folie der eingeschweißten Bioäpfel ist natürlich grün eingefärbt und darauf prangt ein romantischer Garten. Ich fühle mich noch besser, wenn mein Produkt meine Moral unterstreicht und mir meinen Lebensstil „vorlebt“. So werden auch vermeintlich grüne Güter zum „Trägermedium für Nachhaltigkeitssymbolik“, wie Paech das nennt. Darüber kann man dann schon mal das kleinere Übel der Verpackung vergessen – oder die Erkenntnis, dass man als grüner Verbraucher eigentlich in die gleiche psychologische Falle tappt. Um diesen „Fallen“ der Plastikwelt zu entkommen, müsste man so einkaufen wie unsere Großeltern: Mit dem geflochtenen Korb auf dem Markt, echtes Gemüse „zum Anfassen“ und nicht fünf Himbeeren im Plastikbecher. Einige Staaten wie Marokko trauen ihren Bürgern so viel Einsicht nicht zu und haben deshalb den Gebrauch von Plastikbeuteln schlicht verboten. Erste Länder planen den kompletten Verzicht auf Einwegplastik.
Doch wir leben in einem Industrieland – und wer will schon zurück in die Vergangenheit? Wer hört zu, wenn mein argentinischer Freund von den kleinen Lebensmittelläden, den tiendas, in Buenos Aires erzählt? Da ziehen wir es vor, neue Supermarktketten zu gründen, in denen alles doppelt so teuer verkauft wird, und bezahlen noch dafür, ohne Verpackung einkaufen zu dürfen – eine Art Wohlfühlgebühr. Auch die Suche nach Alternativen geht oft nach hinten los: Plastik- durch Papiertüten zu ersetzen schafft neue ökologische Kettenreaktionen. So ist die Haltbarkeit von Papiertüten geringer, ihre Herstellung aufwendiger.
Die Antwort der Wachstumskritik ist „Suffizienz“ – laut Paech das „einfachste und zugleich schwierigste Nachhaltigkeitsprinzip“. Früher hätte man Verzicht gesagt – das traut sich heute allerdings niemand mehr. Suffizienz ist so etwas wie die Positiv-Variante der Verzichtspredigt.
Statt alle Kraft dafür zu nutzen, unsere verschwenderische Lebensweise zu erhalten und aus Problemen teure Lifestyle und Greenwashing-Produkte zu kreieren, appellieren die Suffizienz-Botschafter, sich darauf zu konzentrieren, was wir wirklich brauchen: raus aus der Konsumfalle, hin zum eigentlichen Leben hinter den bunten Verpackungen. Weniger Konsum bedeutet weniger Geld ausgeben, das bedeutet weniger Arbeit und damit mehr Lebenszeit. So erledigen sich viele Probleme von ganz allein