(Der SPIEGEL 3.3. 2020) Die Bundesregierung muss schon bald einen Klimarat einsetzen. Als ein Mitglied wird Claudia Kemfert gehandelt. Weil sie sich unter anderem für einen CO2-Preis einsetzt, ist sie unter Beschuss geraten.
Wenn ein Wissenschaftler über den Artikel eines anderen sagt, dass „im Grunde alles falsch ist“, dann ist das eine Kriegserklärung. In diesem Sinne haben einige Professoren und Energiewendekritiker gerade der Berliner Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert den Fehdehandschuh hingeworfen.
Seit Wochen lancieren Windkraftgegner, rechtskonservative Portale und neoliberale Forscher Vorwürfe gegen Kemfert. Sie hatte in einem Beitrag für die Zeitschrift „Capital“ geschrieben, gestiegene Strompreise lägen nicht an den erneuerbaren Energien, sondern daran, „dass die Stromversorger die günstigen Börsenpreise nicht an uns Verbraucher weitergegeben haben.“ Kemfert rechnet auch vor, dass die Energiewende dem Steuerzahler bisher gar nichts gekostet, „sondern einen enormen Ertrag gebracht“ hat. Auch den angeblichen „Zappelstrom“, also die Theorie, dass erneuerbare Energien nicht zur Stromversorgung geeignet sind, verweist sie ins „Reich der Mythen“. Seitdem steht sie im Kreuzfeuer der Klimaskeptiker.
Vergangene Woche stiegen auch seriöse Medien wie das „Handelsblatt“ in das Kemfert-Bashing ein und gaben gleich einer ganzen Reihe Kritikern das Wort. Der Grund: Professorin Kemfert ist nicht nur eine gefragte Expertin zur Klimapolitik, sondern auch politisch einflussreich. Sie hat die EU-Kommission und Bundesregierung beraten und könnte auch auf der Kandidatenliste für den neuen Klimarat stehen. Dessen Besetzung wird gerade intern verhandelt, auch ehemalige Mitglieder der Kohle-Kommission wie Felix Matthes vom Öko-Institut sind im Gespräch. Bis Ende 2020, so das federführende Bundesumweltministerium, soll der Expertenrat „arbeitsfähig“ sein.
Es könnte nun konkret werden – und das ist nicht erwünscht
Seit Dezember hat Deutschland ein Klimagesetz. Paragraf 11 schreibt die Einführung eines Klimarates vor. Das Bundesumweltministerium muss fünf Mitglieder benennen und dabei auf eine „gleichberechtigte Vertretung“ achten. Es sollten mindestens zwei Frauen im Rat sitzen. Ein Posten in diesem neuen Gremium verspricht Einfluss.
Denn der „Unabhängige Rat für Klimafragen“ ist so ähnlich wie ein Lehrer, der Rügen verteilt: Er soll die jährlichen Emissionsdaten überprüfen und bewerten, ob diese mit den Klimazielen übereinstimmen. Alle Sektoren – von Verkehr über Energie bis hin zu Landwirtschaft – haben seit Dezember konkrete Einsparziele. Erstmals können einzelne Ministerien für ihre verschleppte Klimapolitik zur Verantwortung gezogen werden.
Je kritischer die turnusmäßigen Berichte des Rates, desto mehr dürfte auch öffentlich werden, ob die Klimaziele 2030 mit den Gesetzen der Bundesregierung einzuhalten sind – und desto mehr könnte die schwarz-rote Koalition unter Druck geraten.
Energiewendegegner schalten auf Angriff
Bei der Personalie geht es im Kern nicht nur um Kemfert, sondern um zwei verschiedene Antworten auf die Klimakrise: Ökonominnen wie Kemfert fordern die Politik auf, klimaschädlichem CO2 über eine Steuer einen Preis zu geben und rasch zu hundert Prozent erneuerbarer Energien zu kommen – also raus aus der Kohle, hin zu Solar- und Windenergie. Das würde der Gesellschaft spätere Kosten für die Folgen des Klimawandels wie Dürren und Hochwasser ersparen. Kemferts Vorschläge würden klimaschädliche Produkte und Energien sofort teurer und damit unwirtschaftlich machen. Eine breite Front von Klimaforschern und Ökonomen setzt sich mittlerweile für eine solche CO2-Steuer ein.
Die Kritiker hingegen lehnen politische Eingriffe weitestgehend ab und wollen klimaschädliche Emissionen zwischen den einzelnen Industrien handeln – die Märkte und nicht der Staat sollen für Klimaschutz sorgen. Meistens plädieren sie für einen weltweiten Emissionshandel. Allerdings zeigt die Erfahrung der letzten 15 Jahre, dass es lange braucht, um einem solchen Handel richtig Schwung zu geben, sodass er eine Lenkungswirkung entfaltet. Ohne staatliche Eingriffe wie etwas Mindestpreise oder künstliche Verknappung gibt es keine nennenswerten Preissignale.
Bei der Vorstellung, dass bald Klimaforschende vom Schlage Kemferts gegenüber der Regierung ein ehrgeiziges Programm einfordern könnten, wird es Energiewendekritikern offenbar unwohl. Also wird nun auf Angriff geschaltet.
Wissenschaftler im Netz der Lobbys
Der Mann, der Claudia Kemfert im Handelsblatt vorwirft, dass ihre Behauptungen „völlig falsch“ seien, ist Justus Haucap. Im Artikel wird Haucap neutral als „Düsseldorfer Ökonom“ vorgestellt. Er leitet das DICE-Institut an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität – ein wirtschaftswissenschaftlicher Lehrstuhl, der von der Milliardärsfamilie Schwarz-Schütte finanziert wird.
Haucap sitzt seit Januar 2020 im Beirat des Kohle-Konzerns RWE und bekommt dafür eine Vergütung von rund 5000 Euro im Jahr. Außerdem ist der Professor regelmäßiger Autor der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) und schreibt Studien in ihrem Auftrag. Die INSM ist eine Lobbyorganisation, finanziert von den Arbeitgeberverbänden Metall. Seit Jahrzehnten bekämpft sie soziale und ökologisch höhere Standards wie einen Mindestlohn oder das Erneuerbare-Energien-Gesetz.
„Chefideologin“ und „Depp“: Der Umgangston wird rauer
Claudia Kemfert selbst ist nicht verwundert über die harschen Worte gegen sie. „Neu sind unwissenschaftliche Angriffe auf meine Arbeit nicht, aber in den vergangenen Monaten häufen sie sich. Sicherlich auch, weil es jetzt ernst wird mit dem Klimaschutz“, sagte die dem SPIEGEL. Kemfert ist keine Person der leisen Töne: Seitdem Kemfert in einer Anne Will-Sendung im November 2019 FDP-Chef Christian Lindner vor einem Millionenpublikum kritisierte und dafür eintrat, klimaschädliche Subventionen herunterzufahren, wurden die Angriffe auf sie häufiger.
Windkraftgegner und deren Dachverband Vernunftkraft bezeichnen Kemfert als „Chefideologen der Energiewende“, ihr werden Verschwörungstheorien und „argumentativer Pfusch“ unterstellt – allerdings wird das weder mit Zahlen noch Fakten belegt. In einer Kolumne auf dem rechtslastigen Blog „Achse des Guten“ wird Kemfert als „Depp“ verunglimpft. Betrieben wird der Blog von Henryk M. Broder, Autor für den Springer-Verlag, der wiederum Partner der INSM-Lobby ist. Der ebenso aggressive Blog „Tichys Einblick“ bezeichnet Kemfert als „Miss Energiewende mit Schwerpunkt Marketing“.
Es sind also rechtskonservative Blogger und Vertreter der alten industriellen Ordnung, die Kemfert öffentlich niedermachen. Ein weiterer Kritiker von Claudia Kemfert, Joachim Weimann, ist auch mit der fossilen Industrie verbunden: Er nahm 2009 mit einem großen Foto an einer Kampagne mit ganzseitigen Zeitungsanzeigen für die deutsche Braunkohleindustrie Debriv teil. Als „Werbung für die Braunkohle“ will Weimann das heute aber nicht bezeichnen. Er habe lediglich einen kurzen, unentgeltlichen Text geschrieben, um für den Emissionshandel zu werben.
Weimann bescheinigt Kemfert im „Handelsblatt“, „sehr ungewöhnlich zu argumentieren.“ Auch über den Kohleausstieg schrieb er einen skeptischen Artikel – der wiederum in einer vom Düsseldorfer Kollegen Haucap publizierten Zeitschrift erschien.
Aus rein wissenschaftlicher Sicht haben die Kritiker von Kemfert weit weniger Einfluss als die DIW-Expertin. Schaut man sich an, wie oft die Wissenschaftler zum Thema Energiewende in anderen Texten und Studien zitiert werden – und das ist in der Welt der Wissenschaft ausschlaggebend – liegen Weimann und Haucap weit hinter Kemfert. Die meisten ihrer Publikationen befassen sich gar nicht mit der Energiewende.
Großbritannien: Wenn Politiker auf Wissenschaftler hören
In anderen Ländern wie Großbritannien gibt es längst einen solchen Klimarat, den die Bundesregierung nun einrichten will. Das britische Gremium liegt dabei klar auf Kemferts politischer Linie. Die britische Regierung führte bereits 2008 das unabhängige Committee on Climate Change (CCC) ein. Die acht Mitglieder kommen aus Politik und Wissenschaft und reichen jedes Jahr einen Bericht zum Stand der Treibhausgasemissionen ein. Den kann die Regierung jedoch nicht einfach übergehen. Werden die Empfehlungen des Rates nicht umgesetzt, muss die Regierung das begründen.
Bis jetzt hörte die Regierung meist auf den CCC. Ein Grund, warum das Inselreich in Sachen Klimaschutz Deutschland einiges voraus hat. Der Ausstieg aus Benzin- und Dieselautos, mehr Windräder und Solaranlagen oder weniger Fleischkonsum sind nur einige Ratschläge des CCC, die den Weg in Gesetzgebungen fanden. Vor rund einem Jahr rief das britische Unterhaus aufgrund eines CCC-Berichtes sogar den Klimanotstand aus.