(Der SPIEGEL 4.3. 2020) Zum ersten Mal in der Geschichte legt Europa ein gemeinsames Klimagesetz vor – die Union will demnach ab 2050 klimaneutral sein. Doch Experten warnen vor Rechentricks.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das gilt auch für den Klimaschutz. Denn bisher gab es in der Klimapolitik vor allem eines: Viele Versprechen und noch mehr Ziele, doch kaum Kontrolle geschweige denn Sanktionen bei Nichteinhaltung.
Nach 20 Jahren Klimapolitik versucht Europa nun einen anderen Weg zu gehen: Die EU-Kommission hat am Mittwoch das erste gemeinsame Klimagesetz der Union vorgelegt. In Brüssel präsentierten Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Klimakommissar Frans Timmermans am Mittag den ersten Entwurf. Er schreibt vor, dass die EU ab 2050 klimaneutral sein muss. Unterm Strich muss der Treibhausgasausstoß damit innerhalb von 30 Jahren auf null sinken.
Bereits im Dezember stellte Ursula von der Leyen den „Green Deal“ vor, eine Langfriststrategie, wie europäische Volkswirtschaften bis 2050 unabhängig von fossilen Brennstoffen werden sollen. Schon zu Beginn der Woche zirkulierte ein erster Leak des Papiers. „Heute beginnen wir, die EU bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu machen“, so von der Leyen in Brüssel. „Mit dem Klimagesetz verankern wir unser politisches Engagement nun auch rechtlich.“
Das Klimagesetz ist der erste wichtige Baustein für den Green Deal und so etwas wie ein Leitprinzip: Alle politischen Maßnahmen müssen sich diesem Ziel unterordnen. Der Klimaneutralität sind vom Verkehr über Industrie bis zur Landwirtschaft alle Sektoren verpflichtet. Der Überblick:
- Nach 2050 muss die EU klimaneutral sein: Damit dürfen die Länder nicht mehr Treibhausgase ausstoßen, als der Atmosphäre wieder entzogen werden. Das gelingt durch sogenannte Negativemissionen, beispielsweise durch Aufforstung.
- Das Klimaziel ist „kollektiv“: Das heißt alle Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen ergreifen. Aber nicht alle müssen auf null kommen, wenn die EU unterm Strich klimaneutral ist.
- Nun ist es sicher: Die EU will ihr Klimaziel aufstocken. Bisher wollte die Union bis 2030 nur 40 Prozent ihrer Treibhausgase gegenüber 1990 einsparen. Jetzt soll dieses Ziel auf 50 bis 55 Prozent erhöht werden. Allerdings wird es noch anderthalb Jahre dauern, bis das neue Klimaziel feststeht.
- Bis zum 30. September 2023 und danach alle fünf Jahre soll die EU-Kommission die Fortschritte aller Mitgliedstaaten bewerten.
- Die EU-Kommission soll das Recht bekommen, beim Klimagesetz nachzusteuern, wenn sich abzeichnet, dass die Klimaneutralität bis 2050 mit den bisherigen Maßnahmen nicht zu schaffen ist. Das betrifft vor allem die Ziele nach 2030. Das gibt ihr viel Macht und könnte noch für Diskussionsstoff sorgen.
- Sanktionen: Halten sich die Staaten nicht an die Empfehlungen der EU-Kommission und weichen zu stark von den Klimazielen ab, könnte das in letzer Instanz zum Vertragsverletzungsverfahren führen.
„Ein solches Gesetz ist längst überfällig“, erklärt Ortwin Renn, Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) dem SPIEGEL. „Endlich müssen sich alle Bereiche der Volkswirtschaft am Klimaschutz orientieren.“ Damit sei endgültig klar, dass Klimaschutz die gesamte Gesellschaft betreffe. Allerdings hat Renn auch Bedenken: „Ich hätte mir gewünscht, dass mehr konkrete Ziele auf dem Weg bis 2050 im Gesetz stehen.“ Unklar sei auch, wie man Staaten zur Rechenschaft zieht, die sich weiterhin nichts aus Klimaschutz machen. Er plädiert für hohe Strafzahlungen, wie es auch bei anderen Verstößen gegen EU-Recht üblich ist, damit das Gesetz ernst genommen wird.
Die europäischen Grünen kritisieren das Gesetz ebenfalls als zu vage: „Wir brauchen mehr klare Zwischenziele bis 2050, denn drei Jahrzehnte sind eine verdammt lange Zeit“, sagte Ska Keller, Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament dem SPIEGEL. „Im Jahr 2050 sind die meisten Politiker und Wirtschaftsbosse von heute bestimmt nicht mehr im Amt.“
Klimaneutralität als Büchse der Pandora
Umwelt- und Erneuerbare-Energie-Verbände stoßen sich hingegen am Begriff der Klimaneutralität. Sie befürchten, dass sich Unternehmen dadurch aus der Verantwortung mogeln können oder umstrittene Technologien zum Zuge kommen. Ein Beispiel ist die großflächige Anwendung der unterirdischen Speicherung von CO2, das sogenannte Carbon Capture and Storage-Verfahren (CCS) oder der Zukauf von CO2-Zertifikaten aus dem Ausland. Auch würden fossile Subventionen nicht ausdrücklich verboten und konkrete Maßnahmen auf dem Weg bis 2050 genannt. Tatsächlich ist das Papier mit zwölf Seiten relativ kurz gefasst.
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Der Bundesverband Erneuerbare Energien beispielsweise befürchtet, dass die Unternehmen dadurch weniger in Wind- und Solarenergie oder in klimafreundliche Modernisierungen investieren könnten. Kritiker glauben auch, die Unternehmen oder Staaten würden sich lieber von ihrer Verantwortung „freikaufen“. Das funktioniert, indem sie sich ihre Ziele mit günstigeren Klimaschutzprojekten in anderen europäischen Ländern aufbessern. Unklar ist noch, ob nicht auch Projekte aus Entwicklungsländern zählen. Derzeit ist das nicht vorgesehen. Das könnte aber noch „hineinverhandelt“ werden, vermuten Experten.
„Die Klimaneutralität öffnet die Büchse der Pandora für das Abschieben der Verantwortung für Emissionsminderungen“, glaubt auch Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Solch ein Gesetz brauche genaue Regeln. „Es muss genau festgeschrieben sein, wie viel der Gesamtemissionen real eingespart und wie viel über andere Methoden erbracht werden können“, meint der Klimaexperte.
Ansonsten wären Tür und Tor geöffnet für alle Arten von Rechentricks. Beispielsweise könnte man ins Gesetz schreiben, dass 95 Prozent der Emissionen reduziert werden müssten und nur fünf Prozent durch Klimaschutzrechte aus dem Ausland oder Aufforstungsprojekte in Europa kompensiert werden können.
Noch ist zumindest theoretisch alles möglich. Denn der Kommissionsentwurf muss noch durch das EU-Parlament und wird vom Rat der Umweltminister per Mehrheitsbeschluss verabschiedet. Das sehen Experten als Garantie dafür, dass der Entwurf zumindest nicht abgeschwächt wird. Die Grünen hoffen sogar, dass das EU-Parlament das Klimagesetz noch verbessern kann. „Wir wollen konkrete Zwischenziele in das Gesetz schreiben“, meint Grünen-Politikerin Ska Keller.
Auch müssen durch die Mehrheitsabstimmung im Ministerrat nun Länder mitziehen, die bisher gegen das 2050-Ziel waren. Ein Beispiel ist Polen. Das Land ist abhängig von der Kohle und hatte sich mehrfach geweigert, klimaneutral zu werden. Allerdings könnte es auch hier zum regelrechten Kuhhandel zwischen den Staaten kommen: „Klimaneutralität besagt ja nicht, dass alle Länder ihre Emissionen auf null runterfahren müssen“, gibt Oliver Geden zu bedenken. „Es ist ein „kollektives“ Ziel der Union und das bedeutet, dass nicht jedes Land bis 2050 bei „netto null“ sein muss“. Das sei ein Erfolg für Polen. „Es kann gut sein, dass ein Land sogenannte Negativemissionen produziert, also über das Nettonullziel hinausschießt und dann seinen Überschuss an Länder wie Polen abgibt.“ Das Land hatte sich ohnehin schon im vergangenen Jahr eine Art Sonderstatus zugesichert – sowohl bei den Kohlesubventionen als auch bei den Klimazielen.
„Wir sind erst am Anfang von handfesten Konflikten zwischen den Staaten aber auch innerhalb von Gesellschaften“, glaubt Nachhaltigkeitsforscher Ortwin Renn. „Die ersten 30 Prozent des Wandels gehen noch relativ problemlos, doch spätestens dann kommt es zur Zerreißprobe zwischen progressiven und reaktionären Kräften“, prophezeit Renn. Auch in Deutschland könne man das schon beobachten. „Unsere Gesellschaft polarisiert sich und in Bereichen wie dem Stromsektor, wo wir schon über 30 Prozent erneuerbare Energien haben, sind die Konflikte am härtesten.“
Der steinige Weg zur nächsten Klimakonferenz
Das Klimagesetz ist allerdings nur die Grundsteinlegung auf der Großbaustelle „Green Deal“. Die nächsten zwei Jahre hat die EU-Kommission einen straffen Zeitplan: Noch in diesem Monat will sie eine neue Industriestrategie vorlegen. Damit sollen energieintensive Unternehmen wie die Stahl- und Zementindustrie auf den Weg in die Klimaneutralität vorbereitet werden. Bis zum Sommer wollte die Kommission dann eigentlich eine Erhöhung der europäischen Klimaziele bekannt geben, ohne die das Klimaneutralitätsziel wohl nicht aufrecht erhalten werden kann.
Allerdings könnte sich das noch verzögern, wie es aus Brüsseler Kreisen heißt. Deshalb haben Umweltgruppen wie Germanwatch, NABU und Deutsche Umwelthilfe schon Mitte Februar einen offenen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschrieben und ihre „tiefe Besorgnis“ bekundet.
Denn legt die EU nicht rechtzeitig nach und erhöht ihr Klimaziel bis 2030 von den derzeitigen 40 auf mindestens 50 Prozent Treibhausgaseinsparung, könnte das den UN-Klimaprozess gefährden, argumentieren die NGOs. Einige der Umweltverbände wollen sogar auf über 60 Prozent Einsparung bis 2030 gehen.
Noch diesen November kommt die Welt abermals zum Weltklimagipfel zusammen. Dort soll es auch um die Anstrengungen der einzelnen Länder im Klimaschutz gehen. Die reichen bisher nicht aus, um die Klimakrise zu stoppen. Geht die EU dann nicht mit gutem Beispiel voran, könnte das andere Länder demotivieren.
Bisher haben nur vier der 195 Länder versprochen, ihre Klimapläne (die NDCs) nachzubessern. Eigentlich sollten das alle Länder bis Anfang Februar erledigt haben – also gut neun Monate vor COP26 in Glasgow.
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