(Der SPIEGEL 19/3/2021) Der Klimakrise zum Trotz steigen immer mehr Menschen ins Flugzeug. Airlines sollen ihre CO₂-Emissionen mit Gutschriften ausgleichen. Doch das sei Greenwashing, heißt es in einer noch unveröffentlichten EU-Studie.
Kaum ein anderer Wirtschaftszweig kann ein so stolzes Wachstum bei CO2-Emissionen vorweisen wie der Flugverkehr – und das mitten in der Klimakrise. Noch 2019 gab es das Rekordhoch von weltweit 47 Millionen Flügen – 2014 waren es noch zehn Millionen weniger. Auch die Coronapause ändert an diesem Trend wenig.
Doch schon bevor es richtig losgeht, gibt es scharfe Kritik an der Konstruktion. »Es ist unwahrscheinlich, dass sich durch Corsia etwas Wesentliches an den direkten Auswirkungen des Flugverkehrs auf das Klima verändert«, prognostiziert eine noch unveröffentlichte Studie der EU-Kommission. Es sei nicht zu erwarten, dass dadurch Airlines einen ausreichenden Anreiz für CO2-Einsparungen bekämen. Außerdem sei Corsia nicht vereinbar mit den Zielen der Klimaneutralität bis 2050 – da es nur um das Wachstum, aber nicht um die Einsparung der Gesamtemissionen gehe.
Die Studie wurde monatelang von der EU-Kommission zurückgehalten. Ein Grund ist sicherlich die Schärfe der Kritik. Denn Corsia sollte eigentlich den Klimaschutz des europäischen Flugverkehrs ergänzen.
Doch deutlicher kann man die Skepsis an dem Klimaschutzmodell von Icao kaum formulieren. Besonders kritisiert die Studie die laschen Regeln für die CO2-Zertifikate, die Airlines ab diesem Jahr kaufen können. Denn die Idee des Corsia-Programms ist im ersten Schritt nicht, dass weniger Flugzeuge abheben oder weniger Kerosin verbraucht wird. Es geht vielmehr darum, dass sich Airlines von der eigenen CO2-Schuld freikaufen. Dafür erwerben die Fluggesellschaften an der Börse CO2-Gutschriften, die aus Klimaschutzprojekten in Entwicklungsländern stammen, beispielsweise aus Aufforstungsprojekten.
Die Gefahr der Doppelzählungen
Doch genau das ist der Haken, schreiben die Autoren der EU-Studie: »Es kann nicht garantiert werden, dass die CO2-Gutschriften wirklich den realen Emissionseinsparungen entsprechen«. Die Gründe dafür sind vielfältig: Oftmals ist eine Rückverfolgung der genauen eingesparten Emissionsmenge nicht mehr nachvollziehbar.
»Es ist fast unmöglich zu prüfen, ob Offsetting-Projekte eine zusätzliche CO2-Minderung erbringen oder ob sie als Teil der Klimaschutzpolitik von den Ländern sowieso ergriffen worden wären«, erklärt Jekaterina Boening vom Brüsseler Verkehrs-Thinktank T&E im Gespräch mit dem SPIEGEL. Beim Offsetting werden Emissionen ausgelagert und mit CO2-Einsparungen in Klimaschutzprojekten – meist in Entwicklungsländern – ausgeglichen.
Diese sogenannte Doppelzählung ist besonders problematisch, da sie internationale Klimaziele untergraben könnte, heißt es zudem in der Studie. So könnte beispielsweise ein Unternehmer in Brasilien aus der Aufforstung von gerodetem Regenwald CO2-Gutschriften generieren und sie dann an Lufthansa verkaufen. Gleichzeitig rechnet sich aber die brasilianische Regierung die CO2-Einsparung ebenfalls an – obwohl die Menge nur einmal eingespart wurde.
Eine wackelige Prognose
Eine weitere Schwäche von Corsia sei, dass niemand wisse, welche Projekte wirklich einen dauerhaften Klimanutzen haben. »Wer kann garantieren, dass ein Aufforstungsprojekt auch in zehn Jahren fortbesteht?«, fragt T&E-Expertin Boening.
Die Gefahr: Der
Wald kann abbrennen oder die Fläche verkauft und abgeholzt werden. Doch die CO
2-Gutschrift ist dann längst verkauft und die Airline hat die Emissionen trotzdem ausgestoßen.
»Waldprojekte müssen nur über 20 Jahre sicherstellen, dass der Wald auch tatsächlich stehen bleibt«, kommentiert Lambert Schneider vom Freiburger Öko-Institut gegenüber der SPIEGEL. »Das System müsste fundamental reformiert werden, um einen wirklichen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.«
Die Studie zeige deutlich, dass die EU sich bei der CO2-Minderung im Luftverkehr keinesfalls auf Corsia verlassen dürfe, meint auch Verkehrsexpertin Boening. »Dieses internationale Abkommen ist nichts weiter als eine Alibimaßnahme, die offensichtlich keine positive Klimawirkung erzielen kann.«
Millionenfaches Greenwashing?
Sollte Corsia wirklich derart ineffektiv sein, hätte das massive Folgen für die internationale Klimapolitik und das Erreichen der Klimaziele: Der Markt soll von zwei Millionen gehandelten Zertifikaten in der Pilotphase auf bis zu 900 Millionen Gutschriften pro Jahr allein für die Flugbranche anwachsen.
Die Luftfahrt ist für rund drei Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich – Tendenz steigend. Allerdings schätzen Experten, dass der Beitrag des Flugverkehrs zur Erderwärmung mindestens doppelt zu hoch ist, weil beispielsweise Stickoxid-Emissionen in Kondensstreifen eine zusätzliche Klimawirkung haben.
In der EU gibt es deshalb bereits einen Emissionshandel, der den CO2-Ausstoß der Airlines längerfristig deckeln soll. Der zeigt bisher aber ebenfalls kaum Effekte. Auch in Europa wird immer häufiger geflogen – die Coronapandemie ist eine Ausnahme. Der Grund: Im Emissionshandel brauchen die Unternehmen für jede ausgestoßene Tonne CO₂ eine Berechtigung. Bisher bekommen sie 85 Prozent davon kostenlos zugeteilt. Diese Menge soll in den nächsten Jahren schrittweise sinken. Dann müssen die Unternehmen mehr CO2-Zertifikate zukaufen oder ihre Emissionen entsprechend reduzieren.
Klimaexperte Schneider hält das Emissionshandelssystem der EU trotzdem für wesentlich effektiver als Corsia: »Allerdings sollten die Airlines ihre Emissionsrechte nicht mehr umsonst bekommen, sondern vom Staat ersteigern«, so Schneider.
Zudem müsse die Subventionierung des Flugverkehrs durch die derzeitigen Steuerbefreiungen beendet werden. »Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum der internationale Flugverkehr weiter von Mehrwertsteuer und Kerosinsteuern befreit bleiben sollte«, so Schneider.
Nur mit solchen klaren Preissignalen könnten Anreize geschaffen werden, damit Alternativen zum klimaschädlichen Flugkerosin wie synthetische Kraftstoffe auf Basis von Wasserstoff endlich attraktiv würden.
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