(SPIEGEL 21/2/2020) Auch unter Wasser, am Meeresgrund, zerstört der Menschen brutal Lebensraum. Forscher haben jetzt erstmals kartiert, wo Schutzzonen eingerichtet werden müssten.
Die Meere bedecken 70 Prozent der Erde: Unter dem Wasser befinden sich ebenso wie an Land felsige Gebirge, Vulkane, Algenwälder und jede Menge Lebewesen.
Dieses vielfältige Leben unter Wasser bleibt für die meisten Menschen unsichtbar – das Artensterben findet trotzdem statt. Um Licht ins Dunkel der Weltmeere zu bringen, haben Umweltforscher und Biologen der australischen Universität Queensland erstmals besonders sensible Zonen der Ozeane kartiert. Diese müssten möglichst schnell zu Schutzgebieten erklärt werden. Nur so könne verhindert werden, dass noch mehr Unterwassertiere und mit ihnen ganze Landschaften aussterben.
„Wir brauchen Rückzugsräume, die frei von menschlichen Einflüssen wie Fischerei, Handelsschifffahrt oder Pestizidabfluss sind“, erklärte Studienautor Kendall Jones gegenüber dem SPIEGEL. „In vielen Meeren herrschen heute Wild-West-Zustände, deshalb brauchen wir dringend strengere Regeln.“
Um Wasservögel, Fische und Meeressäuger ausreichend zu schützen, müssten zwischen 26 und 41 Prozent der Weltmeere einen Schutzstatus bekommen. „Wir haben für jede Art den minimalen Platz bestimmt, den diese zum Überleben benötigt“, erklärt Jones die Prozentangabe. Darüber, wie viel Lebensraum genau für jede Art benötigt werde, gebe es verschiedene Zahlen und Studienergebnisse, daher auch die Spannbreite der Schätzung.
Weniger als ein Prozent echte Schutzgebiete
Derzeit sind nur rund acht Prozent der Weltmeere geschützt, und selbst in ausgewiesenen Schutzzonen wird gefischt. „In der gesamten EU gibt es kaum ein Schutzgebiet, in dem die Fischerei verboten ist“, sagt Rainer Froese vom Geomar Helmholtz-Zentrum in Kiel. Weltweit seien nur etwa ein Prozent der Schutzgebiete auch wirklich frei von Fischereibooten. Auch die Daten seines Instituts sind in die neue Studie der australischen Forscher mit eingeflossen.
Laut der Organisation International Union for Conservation of Nature (IUCN), die für die Uno die Schutzgebiete verwaltet, gibt es für die bereits bestehenden Zonen, sogenannte Marine Protected Areas (MPA), keine einheitlichen Vorschriften: Eine MPA muss nur den Schutz der Fauna und Flora in diesem Gebiet „auf längere Sicht“ sicherstellen. Dann kommt es darauf an, wie streng die Anrainerstaaten sind und ob sie sich auf Fischereiverbote oder eingeschränkten Tourismus einigen können. Wie weit der Schutzstatus geht, ist deshalb in jeder Zone anders.
Besonders bedrohte Meereszonen liegen laut der Studie im Nordpazifik nahe der chinesischen und japanischen Küste sowie im Atlantik zwischen Westafrika und dem amerikanischen Kontinent. Als einen Hotspot nennen die Forscher Westafrika und Indonesien. Dort sind seit Jahren Industriefischer aus Europa und China unterwegs. Teils wird dort auch illegal gefischt. In der EU seien vor allem die Nord- und Ostsee von akuter Überfischung betroffen.
Die Hotspots der „Wild-West-Ausbeutung“ liegen oft in küstennahen Gebieten. Dort gibt es naturgemäß viele Meerestierarten. Gerade diese Gebiete sind aber auch für die Fischereiwirtschaft interessant.
Schleppnetze zerstören Pflanzen und Brutplätze
Industrielle Fischereibetriebe, sagt Geomar-Experte Rainer Froese, würden seit Jahren Grundschleppnetze verwenden, um immer größere Mengen in weniger Zeit zu fangen. „Würden die von der Fischerei genutzten Grundschleppnetze über Land gezogen, wäre das, als ob riesige Bulldozer alles plattmachen – dann gäbe es natürlich einen großen Aufschrei“, so der Meeresökologe. Er hält vor allem die bodenberührende Schleppnetzfischerei für ein Desaster.
Um die Krustentiere vom Meeresboden aufzusammeln, schaben die Fischer mit schwerem Geschirr und kleinmaschigen Netzen über den Untergrund – ein Horror für jeden Meeresschützer. Bei der Jagd auf Schollen und Seezungen in der offenen Nordsee würden sogar schwere Ketten über den Boden schrammen, um die Fische aufzuscheuchen. Dadurch würden Laichplätze für Fische aufgewühlt, Pflanzen entwurzelt – kurz: eine Verwüstung angerichtet. Davon bekommen aber weder Touristen noch Einwohner etwas mit, da die Folgen über Wasser kaum sichtbar sind.
„Die südliche Nordsee und die deutsche Bucht waren vor etwa 150 Jahren ein riesiges Austernfeld, und es gab jede Menge Leben am Bodengrund: Heute haben wir dort nur noch die verschlammte Nordsee“, beklagt der Geomar-Forscher.
Bei aller Kritik dürfe man aber auch die Industrieinteressen nicht unterschätzen, meint Vanessa Stelzenmüller vom bundeseigenen Thünen-Institut für Fischereiökologie. Sie hält die Forderung der Forscher nach mehr Schutzgebieten zwar für nachvollziehbar, allerdings sei sie wenig praktikabel: „Die 26 Prozent können eine Art Leitfaden für die Verhandlungen sein, ihre Umsetzung ist aber eine völlig andere Sache.“
Die australischen Wissenschaftler und auch Geomar-Experte Froese hoffen auf die internationale Gemeinschaft und eine Einigung mit der Fischereiwirtschaft. „Wir wollen nicht überall die Fischerei verbieten, sondern plädieren für nachhaltige Fangpraxen, die allen nützen“, so Meeresbiologe Jones. Die deutsche Fischereiexpertin Stelzenmüller warnt jedoch: „Wenn die Uno weitere Schutzgebiete oder gar fischereifreie Zonen implementieren möchte, so müsste sie sich immer mit anderen Nutzern wie der Fischerei auseinandersetzen“, so Stelzenmüller. In Ländern, die stark abhängig von der Fischindustrie sind, sei diese sehr stark.
Gegen die Folgen des Klimawandels hilft kein Schutzgebiet
Doch beim größten Problem der Meere dürften auch Schutzzonen wenig ausrichten: Neben der Fischerei gehört vor allem der Klimawandel zu den größten Gefahren für die Weltmeere. Laut dem aktuellen Ozeanbericht des Weltklimarats machen den Meeren unter anderem höhere Wassertemperaturen zu schaffen, die zu Sauerstoffknappheit, dem Absterben oder Abwandern von Meerestieren führt. Hinzu kommt, dass Meere der größte CO2-Speicher der Erde sind, aber dadurch langsam versauern, weil sich aus Wasser und CO2 Kohlensäure bildet. Auch das setzt bestimmten Meerestieren wie Korallen oder kalkhaltigen Kleintieren wie Muscheln zu. Hier helfen allerdings auch nicht mehr Schutzgebiete, sondern nur eine drastische Verringerung des CO2-Ausstoßes weltweit.